Nachdem sich das Bundeskartellamt in den vergangenen Jahren unter der Leitung von Andreas Mundt wieder deutlich in der absoluten Spitzengruppe der weltweiten Kartellbehörden etabliert hat und so auch den Vorsitzenden des ICN stellt, durfte man dem Entwurf eines neuen Merkblatts zu “Inlandsauswirkungen in der Fusionskontrolle” mit gewisser Spannung entgegensehen. Würde das Amt Vorreiter sein, den weltweit wütenden Wildwuchs flächendeckender und trotz allenfalls marginaler Inlandsauswirkungen nahezu ausnahmslos mit einem Vollzugsverbot bewehrter Anmelde-Erfordernisse der 126 Mitglieder des ICN auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen?
Ein Executive Summary des Entwurfs sieht etwa wie folgt aus:
1. Wenn zwei Unternehmen an einem Zusammenschlussvorhaben beteiligt sind, dann folgt aus der Verwirklichung der beiden Inlandsumsatz-Schwellen des § 35 Abs. 1 GWB zwingend und unwiderleglich das Vorliegen von Inlandsauswirkungen im Sinne des § 130 Abs. 2 GWB (Rz. 12).
2. Bei Gemeinschaftsunternehmen gilt – mit marginalen Vereinfachungen — Folgendes:
a) Wenn das GU Inland Umsätze von € 5 Mio. oder mehr erzielt oder innerhalb des Prognosezeitraums erzielen wird, sind gleichfalls Inlandsauswirkungen zwingend gegeben (Rz. 13).
b) Ein kleiner Safe Harbour existiert, d.h. Inlandsauswirkungen sind auszuschließen, wenn die folgenden Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:
(i) Das GU ist im Inland weder aktuell noch potentiell tätig;
(ii) Die Muttergesellschaften sind im Inland weder auf dem Produktmarkt des GU noch auf irgend einem anderen Produktmarkt aktuelle oder potentielle Wettbewerber (Rz. 15-16).
c) In allen anderen Fällen von GUs ist eine komplizierte Einzelfallprüfung erforderlich (Rz. 18-21). Es wird empfohlen, diese GUs vorsorglich anzumelden (Rz. 22).
Bei Akquisitionen folgt das Bundeskartellamt im Ergebnis so der Praxis der Europäischen Kommission, die ebenfalls aus der Verwirklichung der Inlandsumsatzschwellen der FKVO zwingend auf das Vorliegen von hinreichenden Inlandsauswirkungen schließt. Die “Recommended Practices for Merger Notification Procedures” des ICN, die im Wesentlichen aus dem Jahre 2002 stammen, widmen dem Thema der Jurisdiktion lediglich zwei von 37 Seiten. Sie legen darin ein Lippenbekenntnis zum völkerrechtlichen Minimalstandard ab: Eine Anmeldung sollte nur dann verlangt werden, wenn der Zusammenschluss “is likely to have a significant, direct and immediate economic effect within the the jurisdiction concerned” – I. C Comment 1 (ähnlich das Gencor-Urteil des Europäischen Gerichts vom 22.3.1999, Rs. T-102/96, Rz. 90). Sie sehen diesen Minimalstandard erfüllt an, wenn mindestens zwei der zusammenschlussbeteiligten Parteien “significant local activities” haben.
Man mag sich schon fragen, ob ein Inlandsumsatz von € 5 Mio. “significant local activities” bedeutet und ob ein solcher Umsatz des Zielunternehmens dazu führt, dass der weltweite Zusammenschluss zweier Großunternehmen einen “significant, direct and immediate economic effect” in Deutschland im Sinne der völkerrechtlichen Voraussetzungen auslöst. Die Völkergemeinschaft der Kartellbehörden scheint dies zu bejahen, und auch das Merkblatt geht in Fn. 2 wie selbstverständlich davon aus, dass mit der Erfüllung der Inlandsumsatzschwellen den Erfordernissen des Völkerrechts Genüge getan ist. Letztlich ist aber die Erfüllung der Inlandsumsatzschwellen nur notwendige aber nicht hinreichende Voraussetzung für eine Anmeldepflicht.
Hinzukommen muss auf Grund des autonomen deutschen Kollisionsrechts, dass der Zusammenschluss hinreichende Inlandsauswirkungen im Sinne des § 130 Abs. II GWB hat. Dass diese Anforderungen weitergehen als die des Völkerrechts, ist auch der Ausgangspunkt des Merkblatts (vgl. Fn. 2). Hierzu hat der BGH im Fall Organische Pigmente entschieden (Beschluss vom 29. Mai 1979, KZR 2/78), dass bei auch nur geringen Marktanteilsadditionen im Inland (von 4,4 % auf 4,54 %) Inlandsauswirkungen im Sinnes des damaligen § 23 GWB vorliegen. Das Merkblatt zitiert diese Entscheidung zustimmend, aber sie verleiht dem Merkblatt am Ende wenig Konturen: Das Merkblatt verlangt keinerlei Marktanteilsadditionen im Inland, und im übrigen ist die mit einem bußgeldbewehrten Vollzugsverbot verbundene Anmeldepflicht des § 39 GWB ein weit schwerwiegenderer Eingriff in die unternehmerische Freiheit als die bloße Anzeigepflicht nach dem damaligen § 23 GWB.
Im Ansatz zutreffend geht das Merkblatt hier (Rn. 8) vom Schutzzweck der Anmeldepflicht aus und sieht diesen Schutzzweck – immer noch zutreffend – darin, “vor dem Vollzug von Transaktionen, die zu einer Änderung der Marktstruktur führen, zu überprüfen, ob sie wirksamen Wettbewerb erheblich behindern würden” (Rn. 8). Nur wenn dieser Schutzzweck tangiert ist, liegt eine hinreichende Inlandsauswirkung im Sinne des § 130 Abs. 2 GWB vor. Wir alle kennen viele Fälle, in denen die inländischen Umsatzschwellen erfüllt sind, aber von vornherein jedem mit der Fusionskontrolle halbwegs Vertrauten klar ist, dass der Zusammenschluss wirksamen Wettbewerb im Inland nicht behindern wird (“I know it when I see it”). Es ist mit Sicherheit nicht einfach, diese Fälle abstrakt zu umschreiben. Immerhin wäre z.B. daran zu denken, bei Zusammenschlüssen zwischen zwei ausländischen Unternehmen, die (i) im Inland nicht zu Marktanteilsadditionen führen und bei denen (ii) keines der zusammenschlussbeteiligten Unternehmen auf einem relevanten Inlandsmarkt einen Marktanteil von z.B. 15 % oder mehr hat, spürbare Inlandauswirkungen auszuschließen. Dies erfordert zwar die Bestimmung von Marktanteilen, was für die Unternehmen nicht immer einfach ist, aber auch der Entwurf arbeitet teilweise mit Marktanteilen (Rz. 20). In jedem Fall ist es enttäuschend, dass das Merkblatt hier schlicht auf der Minimalposition der Erfüllung der Inlandsumsatzschwellen stehen bleibt und – anders als bei Gemeinschschaftsunternehmen – jedwede weiterführende Analyse verweigert.
Noch kurz ein Wort zu den Gemeinschaftsunternehmen: Die konservative Einschätzung des Amtes scheint vor allem durch eine m.E. übertriebene Sorge über mögliche Spillover-Effekte begründet, die zu koordinierten Wirkungen auf Produktmärkten außerhalb des GU führen können. Wer die oben beschriebenen völkerrechtlichen Voraussetzungen für ein Eingreifen der Bundesrepublik bzw. der EU ernst nimmt, wird sich fragen müssen, ob Spillover-Effekte überhaupt direkte und unmittelbar eintretende (“immediate”) Wirkungen im Sinne der völkerrechtlichen Voraussetzungen sind.
Im Ergebnis lässt das Merkblatt eine Chance ungenutzt, nämlich die Chance, als erstes Mitglied des ICN voranzugehen und den Versuch zu unternehmen, Fallgruppen zu definieren, in denen trotz Erfüllung der Inlandsumsatzschwellen relevante Inlandsauswirkungen nicht vorliegen und daher Anmeldepflicht und Vollzugsverbot entfallen.
Prof. Dr. Andreas Weitbrecht, Rechtsanwalt, Bonn.