Die 9. GWB-Novelle trat vor knapp einem Jahr in Kraft. Seitdem kann die deutsche Fusionskontrolle auch dann eingreifen, wenn die zweite Inlandsumatzschwelle nicht überschritten wird. Nämlich dann, wenn der Wert der Gegenleistung für den Zusammenschluss mehr als € 400 Mio. beträgt (§ 35 Abs. 1a GWB).
Früh wurde bekannt, dass es einen amtlichen Leitfaden geben wird. Nun liegt dieser im Entwurf vor, gemeinsam erarbeitet mit der BWB:
Sie erinnern sich – auf der Jagd nach enforcement gaps in der Fusionskontrolle war das die Kuh, die zuletzt durch’s Dorf getrieben wurde. Eine Behörde wie das BKartA müsse in die Lage versetzt werden, sich einen Deal wie Facebook/WhatsApp anzusehen (etwa Regierungsbegründung, S. 71). WhatsApp hatte keine € 5 Mio. Umsatz in Deutschland, also keine deutsche Fusionskontrolle. Der Hebel in die Zuständigkeit: der Wert der Transaktion. Zwar hat man sich in Europa seit je über die transaktionswertbezogene Logik der US-Fusionskontrolle belustigt. Aber seit Juni letzten Jahres gibt es sie auch in Deutschland, in verschärfter Form. Denn in den USA greifen zur Konturierung der Schwelle für Auslandssachverhalte quantitative Kriterien ein.
Genau das, die quantitative Konturierung, wollte der deutsche Gesetzgeber nicht haben („[e]ine gesetzliche Fixierung oder Festsetzung absoluter quantitativer Grenzwerte wäre daher nicht sachgerecht“, Regierungsbegründung, S. 75). Und von Facebook & Co. steht natürlich nichts im Gesetz, da stehen abstrakte Kriterien. Die haben in der Beratungspraxis zu einiger Aufgeregtheit geführt. Denn wenn man sich da verhaut, stehen am anderen Ende die schwebende Unwirksamkeit bestimmter Erwerbsvorgänge und möglicherweise empfindliche Bußgelder sowie das public flogging der Mandantin in der Pressenachricht des BKartA.
Diese Schlachten sind geschlagen. Jetzt liegt es – in bester GWB-Tradition – am Amt und den Gerichten, der offensichtlichen Merkwürdigkeit der neuen Aufgreifkriterien ein Gesicht zu geben. Bei alledem war immer klar, dass die neue Schwelle ganz bestimmte Konstellationen abgreifen soll. Aber wo liegen solche Konstellationen vor und wo nicht? Die Musik spielt im § 35 Abs. 1a Nr. 4 GWB, der es zur Bedingung macht, dass das „zu erwerbende Unternehmen … in erheblichem Umfang im Inland tätig ist“.
Es braucht also einen Marktbezug, und dieser muss erheblich sein. Das ist die Weiche, von der aus man entweder in die Compliance fährt oder in die Unwirksamkeit und die Sanktion. Der 30-seitige Entwurf des Leitfadens beschreibt diese Weiche in einem Absatz (Rdnr. 79, meine Hervorhebung):
Vor diesem Hintergrund gilt für Deutschland, dass das Bundeskartellamt die Erheblichkeit dann verneinen wird, wenn das Zielunternehmen im Inland Umsatzerlöse erzielte, die unter 5 Mio. Euro lagen, und diese Umsatzerlöse die Marktposition und das wettbewerbliche Potential angemessen widerspiegeln. Dies wird etwa dann der Fall sein, wenn das Unternehmen mit seinen Produkten im Ausland erhebliche Umsatzerlöse erzielt, nicht aber in Deutschland, z.B. weil im Inland (noch) keine Vertriebsstruktur aufgebaut wurde. Die Schwelle des § 35 Abs. 1 Nr. 2 GWB bleibt insoweit relevant. Der Auffangtatbestand der Transaktionswertschwelle soll hier nicht gelten. Eine Anmeldung ist daher nicht notwendig. Anders ist es, wenn die Inlandsumsätze kein angemessener Gradmesser sind, z.B. weil das Unternehmen auf einem Markt tätig ist, der nicht durch Umsätze geprägt ist, oder weil es ein Produkt anbietet, das erst seit kurzem auf den Markt gekommen ist, so dass die bislang niedrigen Umsätze nicht das wettbewerbliche Potential widerspiegeln. In einem solchen Fall muss die Bestimmung der Erheblichkeit nach anderen Kriterien i.S. der Rz. 62 ff. vorgenommen werden.
Die Rdnr. 62 ff. geben ein paar Hilfestellungen bei der Beantwortung der Frage, welche Kritierien für die Ermittlung eines erheblichen Marktbezuges von Interesse sein können. So lesenswert diese Denkansätze sind („[a]ufgrund der noch jungen Fallpraxis sind die nachfolgenden Erwägungen vorläufig“, Rdnr. 61), sie befassen sich nicht mit der ab ovo-Frage, unter welchen Umständen der Inlandsumsatz das wettbewerbliche Potential eines Deals so sehr verzeichnet, dass man statt seiner auf die „Gegenleistung“ abstellen soll. Sie tun dies ebenso wenig, wie dies die Regierungsbegründung (vgl. dort S. 76) getan hat. Dazu gibt es obige Rdnr. 79 (und ein Fallbeispiel in den Rdnr. 94 ff.).
Alles klar? Ich hoffe, dass das BKartA die Eingaben veröffentlichen wird. Falls Sie dem Amt dazu etwas schreiben wollen, bis zum 8. Juni haben Sie Zeit. Aber schreiben Sie ihm bitte nicht, dass die mit dem Dritten Gesetz zum Abbau bürokratischer Hemmnisse im Jahr 2009 eingeführte, zweite Inlandsumsatzschwelle Ihnen seit jeh ein Dorn im Auge ist.