Am 9. Juli 2014 veröffentlichte die Kommission eine Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat, in der sie die dezentrale Durchsetzung des europäischen Kartellrechts unter VO 1/2003 evaluiert. Die Mitteilung besteht aus zwei Teilen, neben einer Statistik werden institutionelle Fragen und Befugnisse der mitgliedstaatlichen Kartellbehörden behandelt. Die Kommission stellt fest, dass die Kartellbehörden in vielen Mitgliedstaaten bereits über eine Position verfügen, die eine autonome und effektive Aufgabenwahrnehmung gewährleisten. Diese sei nach der Kommission jedoch “fragil” und könne sich jederzeit ändern (Rn. 28). Die Mitteilung endet mit der Feststellung, dass es notwendig sei, die Unabhängigkeit der Kartellbehörden bei ihrer Aufgabenwahrnehmung zu gewährleisten und diese mit ausreichenden Ressourcen auszustatten. Die Kommission werde prüfen, wie dieses Ziel bestmöglich erreicht werden kann. Beabsichtigt seien gleichwohl nur Mindestvoraussetzungen.
Dies bietet Anlass, die Frage der Unabhängigkeit des Bundeskartellamtes in diesem europäischen Zusammenhang zu beleuchten.
Ausgangslage
Die europäische Forderung nach unabhängigen Verwaltungsbehörden ist nicht unbekannt. In vielen Bereichen, etwa im Regulierungs- oder Datenschutzrecht, verlangen die jeweiligen EU-Bestimmungen ausdrücklich die Einrichtung unabhängiger Behörden. Dabei stand wiederholt die Bundesrepublik im Fokus der Kommission, zuletzt etwa im Zusammenhang mit einem möglichen erneuten Vertragsverletzungsverfahren wegen der Umsetzung der Datenschutzrichtlinie.
Für das Kartellrecht folgt aus Art. 35 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 hingegen lediglich, dass die Mitgliedstaaten die zuständigen Wettbewerbsbehörden bestimmen, so dass VO 1/2003 “wirksam” angewendet wird. Zur konkreten Ausgestaltung dieser Behörden enthält sie sich. In Erwägungsgrund 35 anerkennt sie ausdrücklich, dass in den Mitgliedstaaten “sehr unterschiedliche Systeme” bestehen. Dagegen hat Joaquín Almunia in einer Rede vor wenigen Monaten bereits hervorgehoben, dass die völlige Unabhängigkeit der nationalen Kartellbehörden für die Zukunft erwogen werden müsse. Dieser Erwägung folgt nunmehr die vorbezeichnete Mitteilung.
Unabhängigkeit des Bundeskartellamts nach geltendem Recht
Unabhängigkeit wird im nationalen Recht in der Regel mit der Abwesenheit von (Einzel-)Weisungsrechten des zuständigen Ministers gleichgesetzt. Obwohl sich das Bundeskartellamt auf seiner Website als unabhängige Wettbewerbsbehörde bezeichnet, wird dies in der Literatur überwiegend verneint. Ein vor Verabschiedung des GWB im Jahr 1953 vorgelegter Gesetzesentwurf sah ausdrücklich vor, dass das Kartellamt nicht weisungsgebunden sei (vgl. § 14 Abs. 3 GWB-E). Diese Bestimmung wurde nicht in das GWB aufgenommen. Vielmehr hat der Gesetzgeber anerkannt, dass das Weisungsrecht des Wirtschaftsministers unabdingbare Voraussetzung seiner politischer Verantwortung vor dem Bundestag sei (BT-Drs. II/zu 3644, S. 34). Demgemäß sieht § 52 GWB auch vor, dass allgemeine Weisungen im Bundesanzeiger zu veröffentlichen sind. Während hieraus teilweise der Schluss gezogen wird, das GWB lasse mangels ausdrücklicher Erwähnung nur allgemeine Weisungen zu, versteht die Gegenansicht den Regelungsgehalt von § 52 GWB insoweit auf die Veröffentlichungspflicht und damit das “Wie” einer Weisung beschränkt. Aussagen zum “Ob” einer Weisung werden nach dieser Auffassung von § 52 GWB gerade nicht getroffen.
Neben dem genetischen Befund spricht auch die systematische Auslegung gegen die Unabhängigkeit: Im Gegensatz zu den Vergabekammern, denen die Unabhängigkeit in § 105 Abs. 1 GWB kraft Gesetz garantiert ist, enthalten sich die übrigen Vorschriften des GWB einer derartigen Festlegung. Schließlich werden verfassungsrechtliche Vorbehalte gegen die Unabhängigkeit des Bundeskartellamts vorgebracht, da es als obere Bundesbehörde (§ 51 Abs. 1 GWB) zum Geschäftsbereich des Bundeswirtschaftsministeriums zählt und insoweit in den hierarchischen Behördenaufbau integriert ist. Anerkannt ist hingegen, dass das Bundeskartellamt faktisch weitestgehend unabhängig ist. Dieser Umstand hat zur besonderen Reputation des Amtes im In- und Ausland beigetragen.
Folgerungen aus der Mitteilung
Nach dem Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen, das zeitgleich mit der Mitteilung veröffentlicht wurde, ist Unabhängigkeit gegeben, wenn die Behörden frei von externen Einflüssen entscheiden und allein die Wettbewerbsregeln auslegen und anwenden (Rn. 12). Dabei kommt dem Grad der Aufsicht durch staatliche Stellen – und damit auch die Frage nach Weisungsrechten – eine große Bedeutung zu (Rn. 14). Auch die Mitteilung sieht das Verhältnis der Behörden zu den jeweiligen Regierungen als “Herausforderung” an (Rn. 27). Daneben adressiert das Arbeitspapier – wie bereits die Mitteilung der Kommission “Europäisches Semester 2014″ – die Bedeutung der Ausstattung mit ausreichenden finanziellen und personellen Mitteln (Rn. 29).
Dem Grundgesetz dagegen sind unabhängige Verwaltungsbehörden grundsätzlich fremd. Dies folgt aus dem Demokratieprinzip, das im Verständnis des BVerfG die Steuerungsmöglichkeit durch den – mittelbar – demokratisch legitimierten Minister gewährleisten muss. Aufgrund zwingender unionsrechtlicher Vorgaben könnte dieses Spannungsverhältnis indes zugunsten der Unabhängigkeit aufzulösen sein. Derartige Fragen werden intensiv diskutiert; etwa Ludwigs, DV 44 (2011), 41 (46 ff.), krit. Gärditz, AöR 135 (2010), 251 (275 ff.). Zwar dürfte zu ihrer Beantwortung ein allein auf den Vorrang des Unionsrechts abzielendes Verständnis aufgrund der Verortung des Demokratieprinzips in Art. 79 Abs. 3 GG zu kurz greifen. Indes ist zu berücksichtigen, dass auch unter dem Grundgesetz unabhängige Verwaltungsbehörden bestehen können, wobei die Einzelheiten unklar sind. Jedenfalls dürfte neben dem Vorliegen zwingender, wohl verfassungsrechtlicher Gründe zu fordern sein, dass die demokratische Legitimation auf anderem Wege hinreichend sichergestellt wird. Die Mitteilung führt als sachlichen Grund die Sicherstellung des effektiven Vollzugs der europäischen Wettbewerbsregeln an (Rn. 27). Das Unabhängigkeitsverständnis der Kommission ist einer parlamentarischen Kontrolle gegenüber, etwa durch Berichtspflichten, aufgeschlossen (Arbeitspapier, Rn. 29). Derartigen Berichtspflichten unterliegt das Bundeskartellamt (§ 53 Abs. 1 GWB) bereits.
Ausblick
Die Mitteilung betrifft ein verfassungs- und europarechtlich hoch interessantes Thema und verdient daher besonderer Aufmerksamkeit. Da eine Mitteilung kein Rechtsakt ist, bestehen (noch) keine Umsetzungs- oder sonstigen Handlungspflichten der Mitgliedstaaten. Indes dürfte die Diskussion um die Unabhängigkeit des Bundeskartellamts einmal mehr aufgeworfen werden und zusätzliche unionsrechtliche Impulse erfahren.
Sollte ein Rechtsakt verabschiedet werden, der die Mitgliedstaaten zum Aufbau völlig unabhängiger Wettbewerbsbehörden verpflichtet, folgt aus der Rechtsprechung des EuGH, dass die Existenz staatlicher Aufsichtsmittel, d.h. insbesondere von Weisungsrechten, mit dem Begriff der völligen Unabhängigkeit unvereinbar ist. Daran gemessen dürfte die derzeitige Ausgestaltung des Bundeskartellamts künftig europarechtswidrig sein.
Es bleibt daher abzuwarten, ob die Bundesrepublik erneut zwingende Brüsseler Vorgaben den nationalen Behördenaufbau betreffend durchsetzen muss.
Dr. David Stadermann ist Rechtsreferendar am Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg. Anfang des Jahres wurde er mit einer von Prof. Dr. Dr. h.c. Dirk Ehlers betreuten Arbeit zur Staatshaftung im Bereich des Kartellrechts von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster promoviert. Die Arbeit erscheint demnächst bei Duncker & Humblot.